Wettlauf gegen die ZeitNeue Niere für Dialysepatientin – Kölner Arzt bittet Polizei um Hilfe

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Ein OP-Tisch mit entsprechendem Besteck. (Symbolbild)

Ein OP-Tisch mit entsprechendem Besteck. (Symbolbild)

Simone F. wartet seit drei Jahren auf eine Spenderniere. Als ein Organ eintrifft, erreicht der Arzt der Kölner Uniklinik sie nicht – der Lauf gegen die Zeit beginnt.

Als es drauf ankommt, lässt die Technik Simone F. im Stich. Als es drauf ankommt, mitten in der Nacht an einem Freitag Ende August, liegt die 55-Jährige in ihrem Bett in Ohlenberg in Rheinland-Pfalz, rund 60 Kilometer südlich von Köln. Das eingeschaltete Handy liegt auf dem Nachttisch, wie immer, sie geht nirgends ohne dieses Handy hin, einzig: Es hat ausgerechnet jetzt keinen Empfang. Ohne, dass sie es weiß, läuft die Uhr gegen Simone F.

Wer das in diesem Moment sehr wohl und genau weiß, ist Dr. Paul Brinkkötter. Er ist Oberarzt an der Kölner Uniklinik und diensthabender Nephrologe. Er kann Simone F. nicht erreichen, um ihr zu sagen, dass es eine Niere für sie gibt. Brinkkötter muss sie aber erreichen, und er hat nur wenig Zeit.

Seit drei Jahren lebt Simone F. ohne Nieren

Seit sie 14 Jahre alt ist, weiß Simone F., dass ihre Nieren nicht arbeiten, wie sie sollen. Sie hat polyzystische Nieren, eine Erbkrankheit, bei der sich Zysten bilden. Eine Niere holen die Ärzte vor zehn Jahren heraus, Simone F. wird frühverrentet. Die zweite „gibt sie vor drei Jahren ab“ – Simone F. sagt es, als sei das eine freiwillige Entscheidung gewesen.

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Nach drei Jahren hat Simone F. eine neue Niere bekommen. Die Regel ist das nicht: Im Durchschnitt warten Menschen in Deutschland acht bis zehn Jahre auf eine neue Niere.

Nach drei Jahren hat Simone F. eine neue Niere bekommen. Die Regel ist das nicht: Im Durchschnitt warten Menschen in Deutschland acht bis zehn Jahre auf eine neue Niere.

Seither lebt F. ohne Nieren, dafür mit drei mehrstündigen, zermürbenden Dialyseterminen in der Woche. „Das will keiner“, sagt sie, in ihrem Krankenhausbett in der Kölner Uniklinik sitzend, mit einem pinkfarbenen Kissen einer „Winnie Pooh“-Figur im Nacken.  Drei Jahre lang stand sie im Transplantationszentrum der Uniklinik Köln auf der Warteliste für ein neues Organ.

Durchschnittlich acht bis zehn Jahre Wartezeit auf eine Niere

Damit gehört F. noch zu den Schnellen: „Im Durchschnitt warten in Deutschland Menschen acht bis zehn Jahre auf eine neue Niere“, sagt Brinkkötter. Wer ein neues Organ braucht, registriert sich bei einem Transplantationszentrum, wird dann bei Eurotransplant gemeldet, und sobald die ein Match identifizieren, rollt der Zug.

Brinkkötters Problem in dieser Augustnacht: Es muss verdammt schnell gehen. Innerhalb einer halben Stunde braucht Eurotransplant, die für acht europäische Länder zuständige Stiftung, eine Antwort: Will der Patient oder die Patientin das Organ, oder spricht gerade etwas dagegen? Ein Infekt beispielsweise würde eine Transplantation unmöglich machen. Es gibt zu wenige Spenderorgane, es soll keins „verkommen“. Brinkkötter hat schon seinen Kollegen geweckt, der in dieser Nacht der diensthabende Transplantationschirurg ist. Nach dem Vier-Augen-Prinzip gleichen die beiden Ärzte die Patientinnen-Daten mit dem Organ ab, was da kommen soll. Sie sind sich sicher: „Das ist ein sehr gutes Organ.“ Alles passt.

Auf Nummer sicher geht, wer einen ausgefüllten Organspendeausweis immer bei sich trägt.

Auf Nummer sicher geht, wer einen ausgefüllten Organspendeausweis immer bei sich trägt.

Kölner Arzt ruft die Polizei wegen Patientin zu Hilfe

Doch Brinkkötter läuft in dieser Augustnacht die Zeit davon, er kann nicht länger abwarten, er muss seine Patientin genau jetzt erreichen. Er sucht nach einer Lösung und wählt die Telefonnummer der Polizeidienststelle in Linz am Rhein, die auch für den Ortsteil Ohlenberg zuständig ist. Brinkkötter hat Glück: Die Beamten glauben ihm direkt, dass er sie nicht hochnehmen will, sie wollen keinen Extra-Beleg per Mail oder Fax, dass sein Anliegen auch wirklich sein Anliegen ist. Zwei junge Polizisten, 23 und 28 Jahre alt, fahren los. „Wir wussten ja, dass der Arzt die Rückmeldung so schnell wie möglich braucht“, erzählt der Jüngere der beiden.

Sie öffnen die Gartentür von Simone F., suchen sich mit Taschenlampen den Weg, und sie klingeln an der Haustür. Nichts. Simone F. ist im Tiefschlaf. Auch Mops Michel rührt sich nicht. Irgendwann hört sie ein Klingeln, glaubt aber, dass sie träumt, und dämmert gleich wieder weg. Erst, als die Polizisten mit Taschenlampen in ihr Schlafzimmer leuchten, merkt sie, dass das hier kein Traum ist. Angst hat sie nicht, für Angst sei sie zu schläfrig gewesen, sagt F. Erstaunen träfe es eher. „Hallo, ist da wer?“, ruft sie – und bekommt Antwort: „Hier ist die Polizei, erschrecken Sie bitte nicht, wir haben eine gute Nachricht. Lassen Sie uns rein?“

Spontanreaktion: „Oh Gott, scheiße“

„Oh Gott, scheiße“, ist das Erste, was Simone F. sagt, als die Beamten ihr von „ihrem“ Spenderorgan erzählen. Alles geht ihr durch den Kopf, und gleichzeitig geht ihr nichts durch den Kopf, sie fragt die Polizisten, ob sie gleich mitkommen darf. Aber so sehr drängt die Zeit nicht. F. darf in Ruhe packen, um acht Uhr morgens muss sie in der Kölner Uniklinik sein. Wichtig ist jetzt erst einmal, dass Eurotransplant das „Ja“ bekommt. F. ruft Professor Brinkkötter an, sagt zu, sagt, dass es ihr gut geht, dass sie sich bald auf den Weg macht. Die beiden jungen Polizisten hatten noch nie einen Einsatz wie diesen. „Auch mal schön“, sagen sie.

Freitagfrüh kommt Simone F. mit dem Taxi in Köln an. Eine Schwester sagt ihr, sie bekäme eine junge, gesunde Niere aus Ungarn. Simone F. ist glücklich und denkt gleichzeitig: „Da ist jemand gestorben, da gibt’s eine Familie.“ Sie sagt sich: „Der Mensch ist ja nicht meinetwegen gestorben.“ Sie weint. Und sie hofft, dass dieser Familie vielleicht ein kleiner Trost ist, einen anderen Menschen gerettet zu haben.

Am Tag, bevor Simone F. erfährt, dass sie eine neue Niere bekommt, lässt sie sich noch beim Tätowierer ein Wikinger-Motiv auf den Unterarm stechen: einen Kompass, der immer den Weg nach Hause weisen soll, und ein Symbol, das an Walküren erinnert, die nordischen Kämpferinnen, die Verstorbene nach Walhalla begleiten. Mit der linken Hand streicht sie über das frisch gestochene Bild auf dem rechten Arm – was genau es für sie bedeutet, sagt Simone F. nicht. Vielleicht gibt der Kompass ihr Ruhe und Hoffnung, vielleicht erinnern die Walküren sie daran, dass sie sich mit Lebenskämpfen auskennt.

Ausreise aus der DDR: „Ich bin so krank, ihr könnt mir ohnehin nicht helfen“

Denn F. ist in der DDR aufgewachsen, in Leipzig. Sie beginnt eine Ausbildung als Krankenschwester, stellt als junge Frau einen Ausreiseantrag, wird Staatsfeind und darf ihre Lehre nicht fortsetzen. Sie sagt den DDR-Behörden: „Ich bin so krank, ihr könnt mir hier ohnehin nicht helfen, aber die im Westen können es womöglich.“ Ein halbes Jahr, bevor die Mauer fällt, wird ihrem Antrag stattgegeben: Simone F. hat sich freigekämpft. Sie reist aus. In Düsseldorf beginnt sie wieder die Ausbildung zur Krankenschwester, der Liebe wegen zieht sie erst nach Köln, und dann „immer weiter raus“. Bis nach Ohlenberg in Rheinland-Pfalz.

Simone F. weiß, dass das jetzt eine wichtige Zwischenetappe ist, dass sie – so nennt es ihr Arzt – den „Sechser im Lotto“ erwischt hat, aber auch, dass sie weiterkämpfen muss. Zwei weitere Wochen muss sie in der Uniklinik in Köln bleiben, in Woche drei gilt die Gefahr, dass der Körper das Organ abstößt, als am größten. Damit das nicht passiert, muss sie sehr viele Medikamente nehmen. Danach wird ein Arzt sie alle zwei Tage begutachten, und die Medikamenten-Menge wird etwas kleiner, das Leben hoffentlich wieder normaler.

Immer wieder kommen Simone F. die Tränen, sie wischt sie weg, entschuldigt sich. Simone F., 55 Jahre, Kämpferin und Glückskind, hat eine neue Niere bekommen, die OP ist gut verlaufen. Sie wünscht sich, dass mehr Menschen in Deutschland zur Organspende bereit wären.

In Walhalla braucht man sie doch ohnehin nicht mehr.


Mehr zur Organspende

  • 2022 haben in Deutschland 869 Menschen Organe nach ihrem Tod gespendet, so die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO). Das sind 64 Organspenderinnen und -spender weniger als im Jahr zuvor. Auch die Anzahl der entnommenen Organe sank von 2905 im Jahr 2021 auf 2662 im Jahr 2022.
  • Derzeit stehen 8500 Menschen auf der Warteliste für ein Organ. 2022 konnten 2695 Menschen durch die Transplantation ein oder mehrerer Organe medizinisch geholfen werden. 2021 waren es 2853 Patientinnen und Patienten, die ein oder mehrere Organtransplantate bekamen.
  • In Deutschland gilt die Entscheidungslösung: Organe und Gewebe dürfen nur dann nach dem Tod entnommen werden, wenn die verstorbene Person zu Lebzeiten zugestimmt hat. Liegt keine Entscheidung vor, werden die Angehörigen gefragt. Bürgerinnen und Bürger werden regelmäßig mit neutralen und ergebnisoffenen Informationen versorgt, damit sie eine sichere Entscheidung für oder gegen die Organ- und Gewebespende treffen können.
  • Die Widerspruchslösung ist die am meisten verbreitete Organspende-Regelung in Europa. Sie gilt unter anderem in Frankreich, Irland, Italien, Österreich und Spanien und in zwölf weiteren europäischen Ländern. Wer nicht vor seinem Tod widerspricht, wird automatisch Organspender oder -spenderin.
  • Blickt man auf die Länder, die über Eurotransplant zusammenarbeiten, zeigt sich, dass die Länder mit Widerspruchslösung deutlich höhere Spendenquoten pro eine Million Einwohner/-in vorweisen, als die mit Zustimmungs- oder Einspruchslösung. Kroation (Widerspruchslösung) verzeichnet hier mit 31,8 Organspendern pro Millionen Einwohnern die höchste Quote – Deutschland mit 9,3 dagegen die niedrigste.
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